Huber, Bernhard (Vortrag, 21.6.2013, 11:00, Gewi Sitzungszimmer)

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May 31, 2013 by Helmut W. Klug

Kann man noch auf die Gesundheit trinken?
Zusammenhänge von Ernährung und Medizin in der Frühen Neuzeit

 

Eine historische Betrachtung allein der europäischen Kochbuchkulturen macht deutlich, dass in der Bewertung von Essen und Trinken niemals rein kulinarische Kriterien zur Geltung kamen. Ob Diskurse der Nahrhaftigkeit, des Geschmackes, der Leichtigkeit und Schnelle, der Regionalität, Ästhetik oder eben Gesunderhaltung die jeweiligen Vorstellungen von zu bevorzugender Ernährung bestimmten, bedarf der differenzierenden Bewertung ihrer strukturellen wie inhaltlichen Modalitäten der Verschriftlichung. Die Frage, ob der Koch der bessere Arzt sei, verweist somit auf den „Zwittercharakter“ von Lebens-, Genuss-, und Heilmitteln, der unterschiedlich gewichtet und dem Genre bzw. dem Wissensstand gemäß verhandelt wurde. Eine exakte Grenze ist hierbei allerdings nicht zu ziehen, wie Trends der „gesunden“ Küche auch aktuell deutlich machen. Vielmehr ist von einer Unschärferelation der Bewertung auszugehen, deren Kriterien herauszuarbeiten ein bislang zum größten Teil nach wie vor aufrechtes Desiderat medizinhistorischer Forschungszugänge an das Themenfeld der „medizinischen Ernährung“ bildet.

Folglich stellt sich die Frage nach Art und Interpretationsmöglichkeiten der Interferenzen und Schnittmengen, welche die diversen Objekte der Ernährung im Spannungsfeld von Kulinarik, Diätetik und Medizin unterschiedlich definieren. Neben der Untersuchung von Relevanz und Strahlkraft tradierter Konzepte medizinischen Denkens aus Antike und Mittelalter ist für die Frühe Neuzeit insbesondere auf genrespezifische Dimensionen hinzuweisen, die unterschiedliche Gewichtungen dieses Spannungsfeldes mit sich bringen. Ob unterschiedliche Textsemantiken die Einstufungsverhältnisse von Lebens- bzw. Heilmitteln nachdrücklich verändern und damit die Gewichtung ihrer Definitionen bzw. normativen Aussagen verlagern, soll vordergründiger Untersuchungsgegenstand des vorzuschlagenden Beitrags sein.

Unter oben genanntem Titel sind somit auf exemplarischer Basis vorgenommene synoptische Zugänge gemeint, welche mögliche Interferenzverhältnissen medizinisch-diätetischer und kulinarischer Einstufungen von Lebensmitteln im Hinblick auf die ihnen zugeschriebenen Wirkungen herausarbeiten sollen. Schwerpunktmäßige Quellengrundlage bildet hierbei thematisch relevante, auf deutsch verfasste Fachliteratur des 16. und 17. Jahrhunderts, wobei unterschiedliche Genres zu berücksichtigen sind. Makro- und mikrostrukturelle Analysen sollen gewährleisten, aus dem Text- bzw. Werkkontext relevante Aussagen zu diesen Verhältnissen bzw. -bestimmungen herauszuarbeiten und sie in das genannte thematische Spannungsfeld zu stellen.

Im Hinblick auf diätetische bzw. kulinarische Aussagen ist bei den Quellenbeispielen für Kochbücher von zwei Sorten auszugehen:

  • Kochbücher unter spezieller Berücksichtigung von Kranken- bzw. Gesundenkost

    • Walther Hermann Ryff, New Kochbuch (Frankfurt 1608)

    • Anna Wecker, Ein köstlich new Kochbuch (Amberg 1598)

    • [als Ausblick:] Varnhagen, Kochbuch für Kranke und Genesende (Lüneburg 1804)

  • Kochbücher mit allgemeiner sowie in separaten Kapiteln spezieller „medizinischer“ Kost

    • Bartholomaeus Platina Von allen Speisen und Gerichten (Augsburg 1542)

    • Koch und Kellerei von allen Speisen (Frankfurt 1544)

Hierbei ist nachzuprüfen, inwieweit der Adressatenbezug mit einer möglichen Veränderung der Textgestaltung sowie der Inhalte – wie bevorzugte bzw. verpönte Lebensmittel – korreliert, wobei der Gesundheitsaspekt dabei letztlich nicht überbewertet werden darf. Welche Unterschiede lassen sich im Hinblick auf die regulierenden Vorgaben von Gesundheit und Krankheit feststellen? Geht damit eine Auswirkung etwa auf Menge, Zubereitungsarten oder Rezepturen bzw. spezielle Art und Zusammensetzung der Gerichte einher?

Davon in genrespezifischer Absicht zu unterscheiden ist eine medizinische Handbuchliteratur, die entweder in der Tradition der mittelalterlichen Gesundheitsregimenter, der Arzneispiegel oder der „Gart“-Literatur steht. Als Summa medizinischen Wissens sind diese prämodernen „Wellnessratgeber“ im Hinblick auf ihre „normae diaeteticae“ relevant. Am Beispiel von textexternen Faktoren – wie der Gewichtung von Lehrautoritäten oder den Vorstellungen von Mensch und Umwelt – sowie textinternen Faktoren – etwa der Bedeutung der Ernährung für die Gesundheit oder der präventive bzw. therapeutische Stellenwert der Ernährung – machen sie medizinphilosophische Konzepte in ihrer tatsächlichen Transferleistung deutlich. Am speziellen Untersuchungsgegenstand der für das frühneuzeitliche Europa neuen Kulturpflanzen (Kaffee, Tee, Schokolade) kann dies für die seit der Antike in Medizin und Ernährung tradierten Normvorstellungen untersucht werden.

Mehr als bei den Kochbüchern ist bei genannter Handbuchliteratur auf die Modifikationen textstruktureller Elemente hinzuweisen, welche damit auch in Ansätzen die wissens- bzw. wissenschaftsgeschichtliche Entwicklung der Medizin einerseits, der Küchenkultur andererseits ausmachen kann. Zu fragen ist insbesondere nach den Tradierungsmustern humoralpathologischen Denkens in Medizin und Ernährung, sowie nach den definitorischen Unterschieden von Lebens- als Heilmittel, je nach den präventiven oder therapeutischen diätetischen Absichten.

Als Quellengrundlage soll folgende genreübergreifende Auswahl dienen:

  • Luis Lobera de Ávila Ein nutzlich Regiment der Gesundtheyt (Augsburg 1531)

  • Gart der Gesundheit (Frankfurt 1552)

  • Johannes Dryander Aetzenei Spiegel (Frankfurt 1547)

  • Walther Hermann Ryff Lustgarten der Gesundheit (Frankfurt 1546)

  • Adolarius Rotha, Leibes Apoteck (Heidelberg 1581)

  • Philippe Dufour, Drey Neue Curieuse Tractätgen von Dem Tranck Cafe, Sinesischen The, und der Chocolata (Bautzen 1692)

  • [als Ausblick:] Johann Samuel Carl Von der Diät vor Gesunde und Krancke (Büdingen 1728)

  • [als Ausblick:] Christian Jahn, Norma diaetetica (Dresden 1757)

  • [als Ausblick:] Johann Friedrich Zückert, Medicinisches Tischbuch (Berlin 1785 )

Aus vorliegenden Quellen und unter genannten Fragestellungen soll somit letztlich eine Synopsis versucht werden, welche die Verhältnisbestimmungen von Ernährung zwischen Kulinarik, Diätetik und Medizin und somit Definitionskriterien von Lebens- als Heilmittel aus der relevanten deutschsprachige Fachliteratur des 16./17. Jahrhunderts darlegen kann.


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Tagungsthema:

Kochrezepttexte sind nicht nur als simple Anleitungen zur Herstellung von Speisen zu lesen, sondern transportieren wichtige Informationen zur Krankheits­prävention, die im Mittel­alter im Zentrum einer ganzheitlichen Gesundheitslehre stand und der ein besonders hoher Stellen­wert im gehobenen Alltagswissen zukommt.

Es verwundert daher nicht, wenn mittelalterliche 'Kochbücher' in der Regel nicht dem Umfeld der Küche, sondern dem Umfeld der praxisorientierten Medizin und dem so genannten 'Haushaltswissen' des 'treusorgenden Hausvaters' zuzuschreiben sind.

Darüber hinaus können diese Texte auch als 'Leittexte' für die Wege der Wissensvermittlung und der Wissenstransformation von der Antike bis in die Frühe Neuzeit gelten. Sie nehmen medizinische Theoreme der Antike auf, werden angereichert durch Impulse aus der orientalischen Medizin des Mittelalters und greifen in ihrer Anleitung zur praktischen Umsetzung auf die Ressourcen Mittel­europas zurück. – Kurz gesagt, es handelt sich um kulturhistorisch multipel aufschlussreiche Texte.