Adamson, Melitta (Keynote, FR. 21.6.2013, 9:00, HS 01.15)

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May 31, 2013 by Helmut W. Klug

Vom Arzneibuch zum Kochbuch, vom Kochbuch zum Arzneibuch: Eine diätetische Reise von der arabischen Welt und Byzanz über Italien ins spätmittelalterliche Bayern

 

Am Beispiel eines Kodex aus dem frühen 15. Jahrhundert, der heute in der Bayerischen Staatsbibliothek aufbewahrt wird, und unter Zuziehung weiterer kulinarischer und medizinischer Texte, möchte ich die Korpusbildung in der mittelalterlichen Diätetik sowie die Rolle, die Ärzte bei der Kompilation und Tradierung von Kochrezepten spielten, kurz beleuchten.

Cgm. 415, der einst zum Bestand des Franziskanerklosters in München gehörte, besteht aus zwei Teilen, die jeweils von einer anderen Hand geschrieben wurden. Der erste Teil (fol. 1r-278r), der im Mittelpunkt meiner Ausführungen stehen wird, setzt sich nach Karin Schneider aus vier Teilen zusammen, nach Ansicht des mittelalterlichen Kompilators beziehungsweise Schreibers allerdings nur aus drei: einem diätetischen Kochbuch arabischer Gerichte (fol. 1r-20v), einer Kombination aus Weinbuch und Kochbuch (fol. 20v-98r) und einem Arzneibuch (fol. 98r-278v). Die deutsche Übersetzung dieser Traktate basierte auf einer lateinischen Vorlage, die mehrfach selbst eine Übersetzung aus dem Arabischen, Griechischen oder Italienischen darstellte. Der Gebrauch derselben Quellen in mehr als nur einem Traktat sowie Querverweise in den Traktaten untereinander deuten darauf hin, dass die einzelnen Texte bewusst als Teile eines größeren Ganzen konzipiert wurden.

Wann, wo und von wem die Idee des Korpus erstellt wurde, darauf werde ich in meinem Vortrag versuchen, eine Antwort zu geben. Mehrere Anzeichen sprechen für das späte 13. Jahrhundert in Oberitalien, genauer genommen Padua oder Venedig, und für einen Arzt als Kompilator, der auch als Übersetzer aus dem Arabischen tätig war und selbst Autor eines Regimen sanitatis war. Dass ein umfangreiches arabisches Arzneibuch, dem Bagdad des 11. Jahrhunderts entstammend, exzerpiert und zu einem diätetischen Kochbuch umfunktioniert werden konnte, zeigt der erste Traktat von Cgm. 415. Im zweiten Traktat dienen Exzerpte zum Thema Weinbau aus dem byzantinischen landwirtschaftlichen Handbuch des 10. Jahrhunderts mit Namen Geoponika, sowie Exzerpte zum gleichen Thema aus dem Opus agriculturae des römischen Autors Palladius aus dem 4. Jahrhundert als Einleitung für ein Kochbuch, das diätetische Rezepte der arabischen und europäischen Regimenliteratur mit kulinarischen Rezepten vor allem aus der Region Venezien vereint. Das abschliessende Arzneibuch, das trotz seines Umfangs von über 360 Seiten nur ein Fragment ist und im Buchstaben L abbricht, beginnt mit Einträgen, die eher der mittelalterlichen Küche als der Apotheke entstammen, Wasser, Molke, Rosenwasser, Essig und Agrest, bevor es schliesslich zu den für mittelalterliche Kräuterbücher typischen pflanzlichen Drogen übergeht, die in weiterer Folge mit Einträgen über tierische Produkte und Steine aus der Jahrtausende alten Tradition der Lapidarien kombiniert werden.

Was aus dem Textkorpus in Cgm. 415 deutlich wird, ist die Fluidität beziehungsweise Hybridität, die für das spätmittelalterliche Kochbuch noch charakteristisch ist und mit anderen Beispielen belegt werden kann, so etwa der Einarbeitung von Exzerpten aus der Physica Hildegards von Bingen sowohl in das Kochbuch Meister Eberharts als auch in ein Arzneibuch in ein und demselben Augsburger Kodex.

 


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Tagungsthema:

Kochrezepttexte sind nicht nur als simple Anleitungen zur Herstellung von Speisen zu lesen, sondern transportieren wichtige Informationen zur Krankheits­prävention, die im Mittel­alter im Zentrum einer ganzheitlichen Gesundheitslehre stand und der ein besonders hoher Stellen­wert im gehobenen Alltagswissen zukommt.

Es verwundert daher nicht, wenn mittelalterliche 'Kochbücher' in der Regel nicht dem Umfeld der Küche, sondern dem Umfeld der praxisorientierten Medizin und dem so genannten 'Haushaltswissen' des 'treusorgenden Hausvaters' zuzuschreiben sind.

Darüber hinaus können diese Texte auch als 'Leittexte' für die Wege der Wissensvermittlung und der Wissenstransformation von der Antike bis in die Frühe Neuzeit gelten. Sie nehmen medizinische Theoreme der Antike auf, werden angereichert durch Impulse aus der orientalischen Medizin des Mittelalters und greifen in ihrer Anleitung zur praktischen Umsetzung auf die Ressourcen Mittel­europas zurück. – Kurz gesagt, es handelt sich um kulturhistorisch multipel aufschlussreiche Texte.